Lidl, Rewe und Co: Heftige Vertragsstrafen im Poker zwischen Handel und Produzenten enthüllt
Viele Alltags-Lebensmittel werden massiv teurer. Jetzt enthüllen interne Dokumente, mit was für harten Bandagen sich Händler und Hersteller bekämpfen.
Neckarsulm – Große Supermärkte oder Discounter wie Kaufland oder Lidl werben in Deutschland täglich mit günstigen Preisen – auch in der aktuellen Situation, in der viele Alltags-Lebensmittel sprunghaft teurer werden. Der brutale Krieg in der Ukraine, aber auch Faktoren wie Missernten, Hitzewellen oder Lieferengpässe infolge der Covid-19-Pandemie beeinflussen die Lebensmittelpreise im Einzelhandel massiv. Fast schon exemplarisch dafür stehen die Speiseöle.
Kosten für Lebensmittel-Produzenten ziehen an – Teuerungen von 65 Prozent
Sonnenblumenöl-Preise von unter einem Euro gehören längst der Vergangenheit an. Vor wenigen Wochen staunten die Kunden in einer Filiale nicht schlecht, als Kaufland fünf Euro für eine Flasche Speiseöl verlangte. „Kaufland zockt die Leute ab“, schrieb ein User auf Facebook, kurz nachdem die Fotos aufgetaucht waren. Teure Lebensmittelpreise sind in Deutschland nicht mehr selten – im Gegenteil: Längst ist nicht mehr nur noch das Speiseöl betroffen.
Schon seit mehreren Wochen ziehen die Preise für Agrarprodukte kräftig an und erreichen Werte wie lange nicht mehr. Das für die Erfassung der Preisentwicklung zuständige Statistische Bundesamt teilte mit, dass allein der Weizen im März 2022 rund 65 Prozent teurer war, als im Monat davor. „Eine Tonne Weizen kostete an der Börse in Paris letztes Jahr noch 195 Euro. Derzeit sind die Preise mit mehr als 400 Euro pro Tonne um ein Vielfaches teurer“, berichtete Agrarexpertin Anne-Kristin Barth im Gespräch mit BW24.
Steigende Kosten, gleiche Einnahmen: Verträge binden Produzenten und Händler
Eckhard Heuser vom Milchindustrie-Verband (MIV) erklärte im Interview mit BW24 am Beispiel der teuren und knappen Milch und Milchprodukte in Deutschland, warum die Preise zum Teil so gewaltig anziehen. „Die Futter- und Düngemittel sind enorm im Preis gestiegen.“ Zudem würde gestörte Lieferketten sowie ein akuter Fahrermangel die Produzenten vor große Herausforderungen in der Wirtschaft stellen.
Heuser zu BW24: „Teilweise sind die Lieferanten nicht lieferfähig. Lieferketten insgesamt sind bedroht.“ Dass die Kosten für Energie, aber auch Rohstoffe so rasant gestiegen sind, stellt gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen vor Herausforderungen, denn es gelten Verträge mit den großen Handelsketten, an die sich die Produzenten halten müssen. In diesen ist geregelt, wie viel ein Produzent etwa für sein Produkt bezahlt bekommt und welche Liefervereinbarungen gelten.
Interne Dokumente enthüllen Preispoker mit teuren Vertragsstrafen
In einem Bericht von Spiegel Online kommt der Chef einer Molkerei zu Wort, der von den teils knallharten Verhandlungen mit Lidl, Kaufland und Co. berichtet. Als er den Einkäufern von trockeneren Sommern mit weniger Weidegang für die Kühe und folglich auch steigenden Kosten berichtete, bekam er zu hören: „Wenn Sie unseren Preis nicht akzeptieren, gefährden Sie den Deal.“ Zwar sind die Milchpreise zuletzt deutlich gestiegen, die Kosten für die Produzenten aber ebenso.

Die Preise sind längst nicht das einzige, was die Händler und Produzenten in Verträgen regeln. Aus internen Dokumenten, die Spiegel Online vorliegen, geht demnach hervor, dass es mehr als nur um einen brutalen Preispoker geht. Primär mittelständische Produzenten und Importeure würden zunehmend über Strafzahlungen in die Ecke getrieben, heißt es. Wer hier nicht mitmacht oder die Bedingungen nicht akzeptiert, wird als Produzent ausgelistet.
Vertragsstrafen von bis zu 5.000 Euro – Lidl bittet Produzenten zur Kasse
Rewe etwa soll darauf bestehen, dass „mindestens 98 Prozent der in einer Kalenderwoche an eine Filiale zu liefernden Platteneinheiten“ vollständig und auf den Tag genau geliefert werden. Passiert das nicht, drohen teure Vertragsstrafen von bis zu fünf Prozent vom Warenwert. Der Discounter Aldi wiederum verlangt laut Spiegel Online 250 Euro pro verspäteter Bestellung im Kühlbereich, wenn die tagesgenaue Lieferleistung unter 98,5 Prozent liegt.
Knallhart sind die Vertragsstrafen, die Lidl mit Blick auf die internen Dokumente mit Produzenten vereinbart. Der Discounter-Riese aus Neckarsulm bittet Produzenten und Importeure schon zur Kasse, wenn ein stundengenaues Zeitfenster für die Anlieferung am Lager nicht eingehalten wird. Laut den internen Dokumenten können bis zu 5.000 Euro Vertragsstrafe fällig werden – pro Lkw. Bedenkt man, dass die Produzenten darauf bloß bedingt Einfluss haben, ist das enorm.
In Europa herrscht Fahrermangel, die sind alle an der Front
Aldi bezieht Stellung zu teuren Vertragsstrafen – „In berechtigten Fällen“
„In Europa herrscht Fahrermangel, die sind alle an der Front!“, erklärte Heuser vom MIV erst vor wenigen Wochen im Gespräch mit BW24. Auf Anfrage von Spiegel Online bestreiten Rewe, Edeka und Aldi nicht, dass es solche knallharten Vertragsstrafen gibt. Der Discounter Aldi teilte mit, „in berechtigten Fällen“ Lieferverzögerungen zu akzeptieren. Von einem „Preiskampf“ zwischen Händler und Produzent könne aber nicht die Rede sein.
Von Rewe heißt es, dass solche „Vertragsstrafen“ faktisch „keine Rolle mehr spielen“ würden, da sich die Industriekonzerne sowieso nicht an die Vereinbarungen halten würden. Edeka geht noch einen Schritt weiter und beschreibt die Lieferprobleme der Hersteller als „hausgemacht“, weil Produzenten ihre eigenen Lager- und Transportkapazitäten zur Erzielung von Renditen abgeschafft hätten. Die Produzenten wiederum berichten von einem enormen Preisdruck vonseiten der Händler.
Preiskampf im Einzelhandel mit fatalen Folgen: Wirtschaftliches Aus für Kleinbetriebe
Die Verbraucher können vom Preiskampf profitieren, weil es letztlich möglichst günstige Verkaufspreise bedeutet. Allerdings hat das auch zur Folge, dass gerade kleine und mittelständische Unternehmen in Situationen wie im Moment ums Überleben kämpfen müssen. Die Süßigkeitenindustrie etwa spricht von einer „Kostenexplosion“ und macht auf die existenzbedrohende Lage vieler Betriebe aufmerksam. Gehen diese Unternehmen bankrott, kann das für die Verbraucher fatale Folgen haben.
Denn diese Entwicklung spielt großen Handelsriesen wie Nestlé, Coca-Cola und Co. in die Hände, die vom Wegfall ihrer kleineren Konkurrenten profitieren. Man begegne kleineren Herstellern „nicht immer fair“, gibt der Top-Manager einer großen Handelskette Berichten von Spiegel Online zufolge zu. Dem Insider zufolge würden höhere Preisforderungen der Produzenten „reflexartig“ abgelehnt, auch wenn dies für den Lieferanten das wirtschaftliche Aus bedeuten würden.