„Graffiti-Inge“ sprüht bunte Lebenslust auf graue Stromkästen

Graue Stromkästen lassen Inge Hess keine Ruhe. Geschrubbt und mit weißem Untergrund versehen sind sie für die Graffiti-Künstlerin eine unwiderstehliche Fläche. Die 80-Jährige verwandelt die unscheinbaren Objekte mit ihrer Spraydose in bunte Botschafter guter Laune.
Leimen (dpa/lsw) - Inge Hess kann eines partout nicht ertragen - den Anblick von dreckigen, vermoosten und bekritzelten Stromkästen. «Immer wenn ich so einen Kasten sehe, denk ich, da muss man mal mit Farbe rangehen», erzählt die 80-Jährige aus Leimen. Gesagt, getan. Schon 20 Elektroboxen in ihrem Umkreis hat sie verschönert - und zwar mit Graffiti; ein Hobby, das die Urgroßmutter vornehmlich mit jungen Männern teilt. Deshalb ist sie völlig unverhofft zu einer Berühmtheit in der Stadt im Rhein-Neckar-Kreis geworden.
Mittlerweile verbinden womöglich mehr Menschen die 27 000-Einwohner-Gemeinde mit der rüstigen Seniorin und ihrer ungewöhnlichen Freizeitbeschäftigung als mit dem ebenfalls aus Leimen stammenden Ex-Tennisstar Boris Becker. Der sitzt in einem britischen Gefängnis, während «Graffiti-Inge» die ihr entgegengebrachte überregionale Aufmerksamkeit in Presse und Fernsehen kaum fassen kann.
Alles begann mit dem verwahrlosten Stromkasten gegenüber ihrem Eigenheim. Der Schandfleck nervte sie so, dass sie erst zu Schwamm und Putzmittel und dann zur Sprühflasche griff. Andere Farben halten auf dem zum Teil faserigen Material nicht, erläutert sie. Auf den zunächst mit einer hellen Untergrundfarbe versehenen Flächen bringt sie mit Schablonen Motive des Illustrators und Kinderbuchautoren Janosch und des britischen Streetart-Künstlers Banksy auf. Dessen gesellschaftskritischen Ansatz mag sie, auch wenn sie betont: «Ich bin kein politischer Mensch, ich bin sozial.» Dennoch fehlen politische Statements in ihren Arbeiten nicht ganz. Banksys «Mädchen mit Ballon» schaut in ihrer Version auf einen Ballon in den ukrainischen Farben Blau und Gelb. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine habe sie schon mitgenommen, erzählt die sportlich-elegant gekleidete Seniorin.
Hess hat schon immer gerne gemalt, als Schülerin ins Poesiealbum, viel später, als das letzte ihrer drei Kinder aus dem Haus war, begann sie mit Aquarell- und Bauernmalerei. Die Idee mit der Kunst im öffentlichen Raum entstand, als sie und ihr Mann ihren Gastroservice für frische Salate wegen Corona von heute auf morgen einstellen mussten. «Juchu, ich bin frei«, habe sie damals gedacht, erzählt die Autodidaktin.
Die Technik holt sie sich aus dem Internet, Tipps von befreundeten Sprayern. Von einem Besuch in New York nahm sie die Inspiration durch sie dortigen Streetart-Künstler mit nach Hause. So entstehen Bilder, die wie ihre Schöpferin Optimismus und Lebensfreude ausstrahlen. Da chillt der Janosch-Frosch auf einer Blumenwiese und wünscht einen «schönen Sonntag». «Schreib mal wieder« und «Hello Sunshine» ist auf anderen bemalten Kästen zu lesen.
Im Rathaus wird das Engagement der Bürgerin gelobt. «Die leider überall anzutreffenden Schmierereien, die teils obszöne, beleidigende oder gar verfassungsfeindliche Inhalte zeigen, sind ein Schandfleck im kommunalen Erscheinungsbild», meint Oberbürgermeister Hans Reinwald (CDU). Alles, das dazu beitrage, sie schnellstmöglich verschwinden oder besser gar nicht entstehen zu lassen, sei daher zu begrüßen.
Hess tut sich schwer damit, Graffiti-Sprayer per se in die Ecke von Straftätern zu stellen. Für das Ungestüme, das Unkonventionelle, ja zuweilen Brutale der gesprühten Bilder hat die Seniorin durchaus Verständnis: «Die jungen Leute brauchen doch ein Ventil», meint sie.
Sie selbst hat sichergestellt, dass ihre Kunst nicht als illegal eingestuft wird. Sie hat die Genehmigung des Stromversorgers eingeholt und spricht mit den Menschen, die nahe dem Stromkasten wohnen, über ihre Absicht. «Viele haben das unscheinbare Objekt noch gar nie wahrgenommen, und sind dann froh über die Verschönerung.»
Nur mit den so genannten Tags, den Unterschriften der Graffiti-Künstler, kann sie wenig anfangen. In ihren Augen ist das oft nur Gekritzel, dem man mit Schwamm und Sprühflasche zu Leibe rücken müsste. Ihre eigene Signatur ist denkbar einfach. Auf ihren Arbeiten prangt unten ein kleines rotes Herz für eine Künstlerin mit großem Herz. (Von Julia Giertz, dpa)